Te Recuerdo Amanda

ich weiß noch gut, wo ich war und was ich getan hab an jenem spätnachmittag vor 12 jahren.
wie so viele andere.
ich saß vorm pc und hab mir überlegt, wie ich meine nächsten kurzgeschichten schreiben sollte. ich hab über einen roman nachgedacht. den roman hat es nie gegeben.

lustigerweise hab ich an jenem spätnachmittag bruce springsteen gehört und danach auf radio umgestellt, zündfunk bayern 2. mein lieblingssender. ich hörte nebenbei irgendwas von new york und flugzeugen. es war ein ruhiger schöner septembertag und es ging mir gut. dann musste ich den fernseher einschalten, vor dem ich dann bis um ca. 12 uhr – wie so viele andere – sitzen musste, um nur ja nix zu verpassen. irgendwann merkte ich, wie es mit meiner stimmung stündlich bergab ging. ich saß da wie paralysiert und fühlte mich elend, um nicht zu sagen depressiv.

ich wünschte, es hätte diesen tag nie gegeben. und ich empfand keine häme von wegen „da erwischt es endlich die imperialistischen usa“. das war was anderes. das war klar ein antiamerikanischer anschlag mit antisemitischem Hintergrund und er war zutiefst perfide und feige. ich kann nicht sagen, dass die welt seither besser geworden ist. es gibt klar ein vor und ein nach dem 11.9. und wer das leugnet ist bescheuert.
ich saß also da, hörte bruce springsteen und stunden später standen mir die tränen in den augen wegen all diesem mist. mir war diffus klar, was das bedeuten würde. krieg und das für lange zeit.
mit diesem anschlag sind viele fürchterliche dinge gerechtfertigt worden und mir kommt es so vor, als ob man den bürgern eines jeden landes heutzutage ganz einfach und easy angst einjagen kann. angst ist das vorherrschende gefühl, das die leute antreibt und ich hab gelernt, dass angst ein schlechter ratgeber ist.

oft hab ich mir gewünscht, es hätte diesen tag gegeben, aber nicht mit diesem ende. ich hab es mir oft vorgestellt.
nachstehenden text schrieb ich damals so zusammen, um diese andererseits dumpfe patriotenstimmung – schröders legendäres wort von „uneingeschränkter solidarität“, ein irrsinn ohnegleichen – zu relativieren.

ehrlich gesagt weiß ich manchmal selbst nicht, was ich zu diesem 11. september sagen soll. ich hätte meiner tochter eine schönere und friedlichere zeit gewünscht als diesen horror mit 9 jahren miterleben zu müssen und mit meiner ehe ging es in den folgenden jahren bergab. ich saß zu oft da und grübelte über dinge, über die ich früher nicht gegrübelt hätte.

am tag vorher hatte ich mir dylans „love and theft“ gekauft und ich war beinahe wütend, dass mir die freude über das album am tag darauf vorübergehend verging. „sky’s full of fire“ heisst es in „mississippi“ und natürlich war man dazu verdammt, die dazugehörigen bilder für immer in verbindung zu bringen. „love & theft“ erschien in den usa am 11.9.
es war dann die zeit der meinungen und kommentare, oft ein geradezu unglaublicher schwachsinn, was da alles abgesondert wurde. klaus theweleits buch zum „verschwinden der realität“ war noch das beste, was man mitnehmen konnte. zeitungslesen ersetzte irgendwie den roman, es erschien wirklich so, als ob die realität die fiktion endgültig überholt hatte. oder umgekehrt.

ist es nicht so, dass unsere smartphone- und handyrealität etwas von kindischem science-fiction hat? fast noch kindischer als star trek.

 

 

Am 11. September

 

„Von mir aus gesehen begann der 11. September wie ein ganz gewöhnlicher Tag“, meint Joan Turner, eine ehemalige Tänzerin aus England, verheiratet bis zu diesem Tag mit Victor Jara, dem chilenischen Sänger, Liederschreiber, Theaterregisseur und Professor an der Theaterschule der Universität Chile.

Lassen wir Joan Turner weitererzählen:

„Ich denke, jeder, der erlebt hat, was ich Chile am 11. September geschah, und so aus der Nähe gesehen oder gefühlt hat, was Faschismus wirklich bedeutet, dessen Leben, denke ich, ändert sich vollkommen. Meins hat sich jedenfalls geändert. Ich bin nicht mehr der Mensch, der ich vor dem 11. September war. Ich glaube, das einzige, was ich tun kann, ist, den Leuten weiter von unseren Erlebnissen, auch den persönlichsten, erzählen, so dass sie wirklich verstehen können, was so etwas für Menschen bedeutet, und ich denke, dass ich da im Namen aller Chilenen spreche, die stumm sind, die nicht für sich selbst sprechen können. Victor war der Sohn eines chilenischen Landarbeiters und einer chilenischen Volkssängerin….seine Mutter spielte Gitarre und zog herum und sang bei Erntefesten und Trauerfeiern. Chilenische Bauern feiern ein Fest, wenn jemand stirbt. Seine Familie war sehr, sehr arm. Sie lebten auf einem dieser Riesengüter, auf denen die Bauern unter feudalen Verhältnissen lebten. Sie bekamen praktisch überhaupt keinen Lohn – sie wurden in Naturalien bezahlt – mit Mehl und Früchten. Sehr wenig Früchten. Jede Familie hatte eine Art Haus aus Adobe, das ist Lehm und Stroh. Eine von Victors frühesten Erinnerungen ist, wie er aus dem Bett gejagt wird, um seine Füße im Graben vor dem Haus zu waschen. Um Brennholz zu sammeln, Feuer anzumachen und Wasser für eine Art Kräutertee zum Frühstück zu machen: Victor erinnert sich, dass es einmal im Jahr Fleisch gab. Das war ein Fest! Eine Fiesta!“

 

1968 noch starb in Chile alle 36 Minuten ein Kind vor Hunger. Von 1000 Babies starben 86 im ersten Lebensjahr. Victor Jara war eines der wenigen begünstigten Kinder aus Landarbeiterfamilien, das eine richtige Schulbildung bekam. Er konnte die Universität besuchen und studierte Theaterwissenschaft.

Die chilenischen Arbeiter und Landleute forderten wie allen anderen in Lateinamerika Freiheit von Hunger und Arbeitslosigkeit; und Unabhängigkeit von fremder Herrschaft. Im Dezember 1969 schlossen die Sozialisten, die Kommunisten, die Radikalen und drei andere politische Parteien ein Bündnis – die Unidad Popular. Ihr Kandidat für die Präsidentschaftswahlen von 1970 war der Arzt Dr. Salvador Allende. Victor Jara war einer seiner herausragenden Anhänger.

Allende gewann 1970 die Wahlen in Chile.

Von da ab versuchten rechtsgerichtete Kräfte, die Wahl von Präsidenten Allende durch den chilenischen Kongress zu verhindern und ermordeten den Oberbefehlshaber des Heeres, General René Schneider. Offensichtlich hat Schneider sich dem Drängen der USA widersetzt, einen Militärputsch durchzuführen. Das Kommando, das ihn auf dem Gewissen hat, wurde von der CIA organisiert.

Allende wurde am 4.11. 1970 zum Präsidenten gewählt.

Joan Turner: „Ich glaube, das was irgendwie eine vollständige Veränderung in den menschlichen Beziehungen. Es war eine Veränderung, weil wir fühlten, dass zum erstenmal in Chile die Arbeiterklasse präsent war. Man vernahm ihre Stimme. Sie waren überall. Das war wundervoll – etwas, das meiner Meinung nach niemals ausgetilgt werden kann. Ich erinnere mich, dass Victor ein Lied schrieb, in dem es hieß: „Früher, wenn du Geld hattest, dann nannten sie dich einen Herrn, jetzt genügt es zu arbeiten, um companero genannt zu werden.“ Und dieses Wort companero, glaube ich, hatte eine besonderen Sinn für alle chilenischen Arbeiter, denn es bezog sich auf jemanden – jemanden, der an deiner Seite arbeitete, der für dasselbe Ziel arbeitete, für das du arbeitetest. Das war mehr als ein Freund und es war mehr als ein Arbeitskamerad.

Chile war eines der letzten südamerikanischen Länder, das von den spanischen Eroberern auf ihrer Suche nach Land und Geld im 16. Jahrhundert kolonisiert wurde.

Als der chilenische Nationalismus sich im 19. Jahrhundert durchsetzte, stand England den Nationalisten mit Rat und Tat bei und verkaufte ihnen Waffen. Nach der Unabhängigkeit hielt die englische Industrie ihren Einzug und Chile wurde im Prinzip eine Satellit der englischen Wirtschaft. Aus den Gewinnen der Salpeterminen wurden in London Vermögen gemacht. Erst im Ersten Weltkrieg ging die englische Vorherrschaft zurück, und die Vereinigten Staaten traten an ihre Stelle. Die International Telephone and Telegraph Corporation erwarb ihre chilenischen Tochtergesellschaften von den Engländern. ITT zog enorme Gewinne aus dem Land und suchte die Hilfe der CIA, um Allende zu hindern, sein Amt anzutreten und ihre Macht zu beschneiden. Präsident Allende ging vor die Vereinten Nationen und klagte die ausländische Intervention in chilenische Angelegenheiten an.

Als Allende trotz aller Behinderungen 1973 mit mehr Stimmen als bei der ersten Wahl wiedergewählt wurde, wurde die offenkundige Zusammenarbeit von Chilenischem Big Business und CIA zu einer Art Terrorgemeinschaft. Von da ab gab es Sabotageakte, Bombenattentate und die reaktionäre Gewalt schwappte auf die ganze Stadt Santiago de Chile und das ganze Land über.

Am 11. September 1973 intervenierten rechte Gruppen der Streitkräfte unter kaum verdeckter Mithilfe des CIA. Um 3 Uhr an diesem Tag hatten sie die Macht an sich gerissen und Allende war tot. Es kam zu einer siebzehnjährigen Gewaltherrschaft von General Pinochet. Den Anfang macht die Ermordung tausender linker Aktivisten, Gewerkschafter werden von Todeskommandos gejagt, gefoltert und umgebracht. Am 15. September 1973 wird Victor Jara unter den Augen tausend anderer Mitgefangener im Fußballstadion von Santiago umgebracht, nachdem sie ihn vorher gefoltert und danach beide Arme gebrochen hatten. Jara jedoch hörte nicht aufzusingen und wurde von MG-Salven getötet.

Henry Kissinger kommentiert das Vorgehen seiner US-Regierung so:

„Ich sehe nicht ein, dass wir zulassen sollten, dass ein Land marxistisch wird, nur weil die Bevölkerung unzurechnungsfähig ist.“

 

 

Ich denke an dich, Amanda,
wie du auf regennasser Straße
in die Fabrik liefst,
in der Manuel arbeitete.
Das breite Lachen,
der Regen im Haar
machte gar nichts,
du wolltest dich mit ihm treffen,
mit ihm, mit ihm, mit ihm,
der in die Berge ging,
der niemanden etwas zu Leide tat,
der in die Berge ging
und in fünf Minuten
sein Ende fand.
Die Sirene heult,
zurück zur Arbeit,
viele kehrten nicht wieder,
auch der Manuel nicht.“

 

Te Recuerdo Amanda, Victor Jara

 

PS:

Am 12. September 2001, einen Tag nach den Terroranschlägen auf New York, meldet die Süddeutsche Zeitung auf Seite 10:

„Kissinger wegen Mordes an General angeklagt – Als Chiles General Augusto Pinochet 1973 sein 17-jähriges Terrorregime begann, wurde die Trennlinie von Gut und Böse endgültig gezogen, und die USA fanden sich auf der falschen Seite wieder. Die Regierung Richard Nixons hatte sich drei Jahre vorher einen Militärputsch gegen den neu gewählten Linken Salvador Allende in jedem Fall gewünscht und sich alleine damit bis heute den Fragen von Historikern, Politikern und Rechtsanwälten ausgeliefert. In den letzten Tagen allerdings hat die Vergangenheitsbewältigung eine neue Qualität erreicht, denn es geht nicht mehr allein um die Regierung Nixon, die einen gewählten Präsidenten Chiles ans Militär verratene wollte, die Protagonisten selbst sollen nun zur Rechenschaft gezogen werden: Henry A. Kissinger, damals Sicherheitsberater Nixons und Richard M. Helms, damals Geheimdienstchef, um die wichtigsten zu nennen. Der Vorwurf lautet: Beihilfe zum Mord an einem treuen General, der zu seinem Präsidenten und zur Demokratie gehalten hat.

Kläger sind die Angehörigen des ermordeten Generals Rene Schneider. Sie fordern mehr als drei Millionen Dollar Schadenersatz. Schneider wurde Ende 1970 zum Problem, als er sich den Putschplänen des Militärs gegen den gerade gewählten sozialistischen Präsidenten Salvador Allende widersetzte. Am Morgen des 22. Oktober wurde Schneider auf dem Weg zur Arbeit von den Entführern angehalten, sein Auto wurde umzingelt, die Scheiben neben den Rücksitzen eingeschlagen, als Schneider seine Waffe zog, um sich zu verteidigen. Die Entführer schossen. Drei Tage später starb Schneider in einer Militärklinik.

Kissinger bestreitet jede Verbindung der US-Regierung zu dem Mord. In seiner 1979 veröffentlichten Autobiographie schreibt er, die Entführer hätten „in eigener Sache, in Missachtung von CIA-Empfehlungen und ohne unser Wissen gehandelt“. Aus Geheimdokumenten des Staates, die vom Geschichtsinstitut National Security Achive veröffentlicht wurden, soll aber hervorgehen, dass der Geheimdienst 35 000 Dollar an diejenigen gezahlt hat, die wegen Schneiders Tod im Gefängnis saßen. Kissinger hat 1975 in einem Untersuchungsverfahren des Senats gesagt, am 15. Oktober 1970 seien alle Kontakte mit den Putschisten abgebrochen worden. Der Trumpf der Kläger aber soll ein Telegramm sein, dass am 16. Oktober vom Geheimdienste in Washington an die Außenstelle in Chile ging: „Es bleibt die Politik der US-Regierung, einen Putsch in Chile zu stützen.“

 

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