lieder im schloss

am 6. juli 2012 war ich wieder in bad mergentheim, bob dylan & band, zum zweiten mal nach 1991. über 20 jahre dazwischen. unfaßbar. 1993 hab ich dort neil young mit booker t. & the mgs gesehen, vielleicht eines der besten live-konzerte ever.

es war eine entspannte stimmung an diesem freitagabend, es gab kein gedrängel, keine nervensägen, keine hysterie. es war einfach ein wunderbarer sommerabend, nicht zu heiß, nicht zu kalt, kein regen, keine besoffenen. ein durchwegs gemischtes und interessiertes publikum, von denen die meisten zu wissen schienen, dass hier nicht das achte weltwunder stattfindet, sondern der kurzbesuch eines sonderlings, laut sony-plattenfirma nun 50 years going strong. nun ja, dem kann man nicht widersprechen. der auftritt war das statement von jemand, dem sowieso sämtliche kategorien, regeln und schubladen schon lang nicht mehr gerecht werden. es gibt ja das saublöde wort von den überlebenden im rock’n’roll, allerdings gibt es viel mehr tote. die meisten davon hat dylan auch noch persönlich gekannt. man kann bei hendrix anfangen, über richard manuel und rick danko von the band weitermachen, über jerry garcia meditieren und bei george harrison oder johnny cash einen schlußstrich ziehen. es wird keinen geben. letztes jahr ist jetzt halt auch noch levon helm gestorben. da warens nur noch 2 von der einst „the hawks“ genannten combo, die dylan als „galant knights“ bezeichnet hat, „for standin‘ up behind me“. dasselbe hat er über johnny cash gesagt, „thank you for standin up for me way back when.“
ja, way back when. all diesen kram und all diese jahre und ihre geschichten trägt er mit sich herum wie jemand, der genau weiß wem er was zu verdanken hat, der aber auch genau weiß, wo er sich selber zu verorten hat. dieses archiv an musik, das selbst aus seinen unbekanntesten liedern spricht, ist einmalig. die türen, die sich öffnen, wenn man zwischen all den 50 years – mittlerweile sinds ja schon wieder mehr – hin-und herzappt, kriegt man nie wieder zu. es hat die letzten 10 jahre fast etwas beängstigendes bekommen, mit welcher verve und raffinesse bob dylan beschlossen hat, das musikgeschehen wieder an sich zu reißen, als sei es so selbstverständlich wie busfahren oder wäsche waschen.
wahrscheinlich ist es diese gewöhnlichkeit, diese erdung im hier und jetzt, die ihn zu sogenanntem genialen befähigt. das authentische, auf das sich viele immer gern berufen, hat es für ihn nie gegeben. er war von anfang ein entwurf der vision, der aneignung von fremdem und dessen transzendierung. er wurde als heiliger und held verehrt und als verräter bezeichnet. zu letzterem hat er letztes jahr gemeint: „all those motherfuckers can rot in hell“.
und nein, „tempest“ ist kein meisterwerk wie nun in allen rezensionen stand. als würde man unisono zum papst pilgern. vielleicht amüsiert ihn das. vielleicht auch nicht. morgen, am 28. august, ist der 50te jahrestag der martin luther king-rede. noch einer, an dessen seite er damals jung und unbeschwert und neben joan baez an das gute amerika glaubte. ich denke, dieser glauben ist ihm schon lang abhanden gekommen.
sollte er noch einen haben, dann sucht ihn sein blick im nachthimmel, zwischen skepsis und einer merkwürdigen heiterkeit, die seine konzerte die letzten beiden jahre auszeichnete. es ist kein lautes lachen, auch nicht das des jokermans und des clowns. es scheint, es ist das lachen des propheten, der weiß, dass prophezeiungen auch nur schall und rauch sind. so wie vieles.
die musik bleibt. klar, die texte, die stichworte, das jonglieren mit den eigenen textzeilen.
die theme time radio hour von 2006 bis 2009 war wohl sein größter coup, all diese sendungen mit all diesen liedern, die andere singen. bob dylan moderiert sie wie ein schlawiner und erzählt von e-mails von johnny depp und kochrezepten und gibt den leuten dort draussen kleine tipps fürs überleben. ab und zu werden telefonanrufe von tom waits eingespielt, in denen der über absurdes philosophiert. man begreift, dass es sinnlos ist, darüber nachzudenken, ob das jetzt ernst gemeint oder als witz gedacht ist.

das konzert in bad mergentheim war weder sensationell noch außergewöhnlich. es war einfach nur menschlich, warmherzig und es war eigentlich gar kein konzert. eher sowas wie ein abend unter freiem himmel, der assoziationen, erinnerungen, träume freisetzte. die gospel-jahre. eine episode, ein kapitel unter vielen. der rolling-thunder-irre, der 80er jahre-disco-dylan, der americana-dylan von time out of mind und „love & theft“ – alles nur stationen. „to ramona“ von 1964, eines der letzten lieder aus den folk-jahren: von dylan am klavier so locker und leicht vorgetragen als wäre es nie um sorrow oder watery eyes gegangen. natürlich stimmt das nicht, natürlich bleibt „ballad of a thin man“ die immergleiche horrorshow für jemand, der die welt nicht mehr versteht. man fragt sich: sind das die anderen oder ist man es selbst? der lustigste moment war der, als dylan seiner mundharmonika in „highwater (for charley patton)“ die immergleichen töne entlockte und der haufen hardcore-fans vor der bühne johlend zurückgröhlte als sei man auf der kirmes. drei, viermal wurde das spiel zelebriert. call & response, stop & go.

und danach in den bus. in die nacht, wohin auch immer.

die 20-uhr-nachrichten kommen. ich muss aufhören.
und nun die wettervorhersage.

würde dylan sie vorlesen, würde er nichts von einem harten regen sagen. er würde sagen: heiter bis wolkig und wenn es regnet bleibt zuhause. macht euer ding. so sie er am ende dieser nie endenden konzerte ins publikum schaut und zu sagen scheint:

macht euer ding. ihr seid es, worauf es ankommt. nicht ich.

i am just a song & dance man.

und nun folge auf arte ein film über die mccarthy-ära, während sich die usa für syrien fit machen.
oft scheint es so, als sei die zeit stehen geblieben.
und wenn man hierzulande so rumfährt, ist es sie auch.

Album of the Summertime

als ich mir vor ein paar wochen zum ersten mal yo la tengos glaub ich 16. studioalbum „fade“ zum ersten mal anhören durfte, war ich gerührt. nach so vielen jahren, in denen mich die band jetzt begleitet – bald sind es 20 – und mit ihr ein großer howe gelb und seine giant sand sowie ein will oldham alias bonnie prince billy – so ein ding rauszuhauen, dass einen zu keiner sekunde der genau richtigen albumlänge von 10 Songs nervt, ist einfach großartig.

howe gelb und will oldham werden keine superstars mehr werden.

aber mir fällt auch niemand, aber auch gar niemand im musikbusiness ein, der über eine so lange zeit eigentlich niemals eine schlechte platte gemacht hätte.

die unscheinbarsten von allen aber sind yo la tengo.

https://www.youtube.com/watch?v=UIkMeaAfIRw

ich hab sie 2000 in münchen live gesehn, und 1993 in münchen und noch einmal irgendwo, aber keine band der welt hat weniger rockstarattitüde, weniger muckertum und mehr intelligenz als die kleinkommune aus hoboken, new Jersey, wo man wahrscheinlich jeder abend am hudson river sitzt und sich über die irren in new york amüsiert, die sich zu tode wurschteln.

yo la tengo wurschteln nicht, sie haben sich selbst gefunden. vor langer langer zeit, denn man kann nicht mit soviel understatement soviel sagen, ohne jede peinlichkeit, ohne aufdringlichkeit, ohne fehler und falsch.

https://www.youtube.com/watch?v=gAVqDFFA4oE

„fade“ ist als ganzes ein song, ein sommerabend, der vielleicht nie wiederkehrt, eine erinnerung die nie verblasst

wie sagte der große townes van zandt im „catfish song“:
you need all your memories when youth melts away

„fade“ ist dreh- und angelpunkt von 2013, einem jahr, wo man die kommerziellen radiosender eigentlich nur noch abschalten, den fernseher besser gar nicht anschalten und stattdessen die alten vinyl-Singles von the jam, townes van zandt, hausmusik, blondie, tav falco und grauzone anhören sollte. oder eine lp von the sea & cake oder gastr del sol, bands die wie yo la tengo mich einfach nicht nerven. die mich wie ein jeb loy nichols von den ehemals fantastischen fellow travellers einen einfach an der hand nehmen und man weiß: alles wird gut.

für townes van zandt wurde es das leider nicht.  vielleicht hätte ihn auch spätestens anfang 1995 jemand dorthin schicken sollen, wohin schwer alkoholkranke menschen normalerweise hingehören. anstatt ihn noch einmal auf tour zu schicken, noch einmal die legende zu propagieren und ihn in rundfunkstudios einzuladen wo er gebrochen seine lebensgeschichte erzählen darf.

aber das ist alles eine andere geschichte, eine die ganz lang erzählt werden muss.
an ganz langen herbstabenden.

https://www.youtube.com/watch?v=Az3SHeMHC6c

 

Wir sind hier nicht in Seattle, Dirk

Wir sind hier nicht in Seattle, Dirk

 

 

Als Bloom zu seiner Penelope zurückkehrt – Molly, die sich nichts anderes ersehnt als die Erfüllung ihrer erotischen Wünsche – und seine Irrfahrt an einem Tag im „Ulysses“ beendet, sagt sie „Ja, ich will, ja.“ Als Bob Dylan am 5. Oktober 2001 in einem irrlichternden Amerika seine Love & Theft-Tour in Spokane im US-Bundesstaat Washington beginnt, sagte er vielleicht „Ja, ich muss.“ Und am nächsten Abend in Seattle sagte er „Tonight I’ll Be Staying Here With You“. Es war der letzte Tag des ablaufenden Ultimatums für den Frieden, und da wir ja alle wissen, so Pi mal Daumen, dass das „ein sehr langer Einsatz“ werden wird „gegen den Terror“, wird es vielleicht mal ein erinnerungswürdiges Datum markieren, so wie einst der Vorabend des 1.9.1939.

Bob Dylan betrat die Bühne der Seattle Arena an jenem Abend wie meistens in letzter Zeit in Schwarz gekleidet; das neue Album war von der einschlägigen Presse einhellig gefeiert worden, die Fans warteten auf die neuen Songs, die Livedebüts, das Besondere an jenem oder diesen Abend, aber jeder wusste, dass es sowieso nicht wie bei den meisten Dylan-Touren der letzten Zeit werden würde. Dazu war das neue Album zu stark, zu vielschichtig und es würden wohl neue Türen aufgestoßen werden: Am 6.10.2001 war man ohnehin angespannt in einem Amerika, in dem die Furcht vor Milzbrandbriefen und dem anstehenden Krieg bei einem gleichermaßen alten wie jungen Publikum genauso in den Köpfen herumgespukt sein dürfte wie die Freude auf Dylan. Ich war nicht in Seattle („Wir sind hier nicht in Seattle, Dirk, was bildest du dir ein“ sangen 1995 die Hamburger Tocotronic auf ihrem ersten Album „Digital ist besser“), aber ich habe einen famosen Mitschnitt des Konzerts gehört. Und so was habe ich eher selten vernommen in letzter Zeit.

 

Zusammen mit seiner bewährten Truppe mit Charlie Sexton, Larry Campbell, David Kemper und Tony Garnier fängt Dylan wie seit Jahren mit einem Traditional an, einer Old-Time-Countrynummer zumeist, gospel-bluesgrassmäßig turboisiert à la Stanley Brothers (mit Ralph Stanley 1997 einen Song, „Lonesome River“ aufgenommen zu haben, bezeichnete Bob stolz wie ein Pfau als den Höhepunkt seiner Karriere) und wie eine ausgesuchte Moritat eines Brecht-Lehrstückes den eigenen Werken vorangestellt. Die gute Coverversion als Aperitif. Diesmal ist es, wie bei etlichen Abenden danach, „Wait For The Light To Shine“, ein Fred Rose-Stück, das auch Hank Williams aufgenommen hat und ein Dutzend anderer Song And Dance Men.

 

Don’t forget your brother as you travel through the land

Wait for the light to shine

He may be in trouble, he may need a helping hand

Wait for the light to shine

Hank Williams hatte auch noch gesungen:

„Never give up hope or cast your pearls before the swine“

Das lässt Dylan weg, aus gutem Grund. Seine Empfehlung „To Ramona“ hat den Mandolinenblues, die Wehmut vergangener Liebe. Sentimentale Freunde würden sich jetzt in die Arme fallen, aber bei „It’s Alright, Ma (I’m Only Bleeding)“ hebt die Show ab und kommt erst wieder beim abschließenden „Blowin’ In The Wind“ wieder zurück zur Erde. Keine Zeit mehr für Sentimentalitäten. Die Band in Hochform, der fahrende Sänger ohne Fehl’ und Tadel und die Auswahl der Stücke eine Wohltat. „Tweedle Dee & Tweedle Dum“ wird zur finsteren, im Labor von „Maggies Farm“ künstlich gezeugten Rocknummer umgedeutet, ein vorantreibender R&B, mit einem Fuß auf dem Trittbrett eines dahinbrausenden Güterzuges und mit dem anderen auf einer absinthberauschten Dichterlesung in Rimbauds Paris. Der Trapezkünstler mit neuen surrealen Versen, auf der Platte noch wie ein kleiner Scherz wirkend, plötzlich wie eine einzige böse Satire auf die Zeit implodierend. Wumm!

Der abrupte Schluss im Gegensatz zum Fade-Out der Love & Theft-Version klingt bedrohlich, danach wird ein von Larry Campbells Pedal-Steel wunderbar untermaltes „Tonight I’ll Be Staying Here With You“ zur Freundschaftsbezeugung. Ein Lovesong, klar, zu Nashville Skyline-Zeiten für die geliebte Sara gesungen. Jetzt klingt es wie ein Versprechen Dylans an sein Publikum: „Heute nacht bin ich hier bei euch.“ Und er meint es ernst. Die deutschen Dichter gehen inzwischen lieber zum Kanzler und lassen sich Honig ums Maul schmieren, um zufrieden zu erfahren, dass sie „gelegentlich kritische, manchmal sogar unangenehme Fragen“ stellen dürfen. Wer von diesen Herren Grass und Walser und dem Industrial-Philosophen Sloterdijk also in Zukunft unangenehme Fragen gestellt bekommt, der sollte doch vorsichtig mit seinen Antworten sein und die Haustüre lieber wieder zumachen. Mir hat Bob jedenfalls noch keine unangenehmen Fragen gestellt und ich ihm auch nicht, versteht sich.

Mit dem hochenergetischen „Stuck Inside Of Mobile With The Memphis Blues Again“ von “Blonde On Blonde”, Dylans persönlichem „Ulysses“, sprechen die Gitarren und die Worte purzeln auf das Publikum hernieder wie einst im Mai. Dieses große Geheimnis, wie die Songs selbst nach über fünfunddreißig Jahren auf dem Buckel noch ihren eigenartigen, so ganz und gar dunkel schimmernden Glanz entfalten, als seien sie soeben neu geschaffen worden, wird wohl für immer Dylans Größe definieren.

Moonlight Over Seattle heißt es dann, und die Schmalznummer „Moonlight“ wird zu einem Flehen Dylans, einer so schön dahingehauchten Bitte, das man nicht mehr anders kann, als gleichzeitig zu schmunzeln und zu weinen. Und dann holt er auch noch die Harp raus, die ihm bei Love & Theft offensichtlich einer gestohlen hatte, und scheint uns hinterhältigst einlullen zu wollen mit soviel Lieblichkeit. Eben: „It takes a thief to catch a thief“. Als die ersten Töne von „Masters Of War“ kommen, weiß man, das mit der Lieblichkeit war wieder mal nur eine kleine Täuschung und Täuschungen en masse gibt es ja jetzt zum Schleuderpreis. Schnell ist man „One too many mornings and a thousand miles behind.“: Der Höhepunkt, zumindest des ersten Sets, zusammen mit “A Hard Rain’s A-Gonna Fall“, das an Eindeutigkeit nichts mehr zu wünschen übrig lässt:

 

I heard ten thousand talkers and their tongues were all broken

Das Publikum scheint an jedem Vers zu hängen. „Das schrieb ich, als ich mir sagte, dass ich nicht mehr genug Zeit zum Leben haben würde, als ich nicht wusste, wie viele Songs ich noch schreiben könnte, während der Kuba-Geschichte…..Es geht darin allerdings nicht um atomaren Niederschlag, wie manche Leute meinen. Es ist einfach ein schwerer Regen, nicht einfach der Fallout einer Atombombe, das ist es überhaupt nicht. Der schwere Regen, der herunterkommen wird, ist in der letzten Strophe erklärt, wo ich sage, die ´giftige Flut überschwemmt uns alle`; damit meine ich all die Lügen, die den Leuten vom Radio und von den Zeitungen erzählt werden und ihnen den Verstand wegnehmen sollen; all die Lügen, die ich als Gift ansehe.“ Soviel Bob Dylan selbst zu dem Song, irgendwann in den Sechzigern.

Und genau so trägt er ihn vor, neun Minuten lang, an diesem 6. Oktober im Jahr 2001.

 

 

Mit einem grundfidelen „Country Pie“, einem apokalyptischen “Sugar Baby”, einem höllisch lauten “Wicked Messenger” und einem ausgelassenen „To Be Alone With You“ mit volltrunkener Country-Fiddle geht es in die Endrunde zum ersten Finish, Dylan jongliert mühelos mit Witzen und Possen und Visionen und heimlich zugehauchten Küssen, als gebe es kein Morgen mehr. Wer soviel zu bieten hat, der muss nicht, der will.

Der Zugabenteil ist wie immer der größtmögliche gemeinsame Nenner. „Love Sick“ sind wir alle, „Like A Rolling Stone“ auch, “Forever Young” nicht viele und “Honest With Me“ sind wenige. Und die Antwort auf all den Scheiß kennt nur der Wind, egal, auf welcher Odyssee man sich gerade befindet. So ist das und wer meint, das sei nur ein erfundener Quatsch, der soll das eben tun und sich zum Kanzler begeben. Der sucht händeringend noch ein paar Umfaller.

 

Rolf Bergdolt

 

Hank

 

alexandra palace, haringey, london

Exif JPEG Exif JPEG

Angel Eyes Revisited

 

Prolog

 

Kindheit

 

 

Auf  bunten Wegen will ich gehen

Die Schlösser hinter mir und Felderglühen

Im Mai und seinen leichten Blütenseen

Ich lass durchs Haar der Sonne Winde wehen

 

Die Feste der Seele, der Geduld, der Vernunft

Musik träufelt im Licht von Lindenzweigen

Ein Clown und sein Mädchen, rotes Schweigen

In meinem Herzen Zigeunersätze treiben

 

Ein seidener Klang, eine Nacht, ein Gebet

Wohin der Trauben reine Säfte fließen

Da sitzen Gott und eine Bettlerin auf Stufen

Der Erinnerung an erste Liebe in den Sommerwiesen

 

 

1

 

 

 

Kurz nachdem er in seiner neuen Wohnung eingezogen war, fiel sie ihm das erste Mal auf.

Ihr engelsgleiches Gesicht mit den großen blauen Augen und dem rotbraunen,

kastanienfarbenen Haar, das in der Abendsonne leuchtete wie Feuer, kam ihm entgegen

wie eine Erscheinung, älter als das Fundament der Welt. Er wusste im ersten Augenblick

nicht, wie er sie betrachten sollte. In ihrem Blick lag etwas Trotziges, leicht Ironisches auch

und gleichzeitig etwas Verbissenes und doch ging er in ganz weite Ferne an ihm vorbei in ein Land,

wo sie wohl 1001 Träume träumte. Still vor sich hin träumte.

Er wagte es nicht, sie anzusprechen – oder sagte er nicht sogar einmal „Hallo“ zu ihr, bei der nächsten Begegnung? Es ist einige Zeit her jetzt und er kann sich nicht genau erinnern, jedenfalls nicht hundertprozentig, aber er wusste, dass sie mit Sicherheit nicht viel darauf erwiderte. Er musste innerlich lachen, denn mit soviel Bockigkeit hatte er nicht gerechnet. Ihr

Wesen hatte mit ihrem absolut mädchenhaften Aussehen offensichtlich nicht das Geringste zu tun. Vielleicht täuschte er sich auch, aber damals kam es ihm so vor.

Ihm fiel noch auf, dass sie wohl ein Musikinstrument spielte, denn jedes Mal, wenn sie ihm rein zufällig in diesen Spätherbsttagen im Oktober und November 2001 in der ruhigen Nebenstrasse, in der kein Autodurchgangsverkehr zugelassen war, mit dem Rad entgegen kam, hatte sie eine riesige Instrumententasche auf ihrem Rücken, die aber nur deshalb so riesig wirkte, weil sie ziemlich klein und zart gewachsen war. Damals war sie wohl ungefähr 15 oder 16, er hätte sie auch viel jünger eingeschätzt. Sie war ganz sie selbst.

Sie wirkte wie ein neuer Morgen auf ihn, ein Morgen, an dem man alle bisherigen Sorgen im Leben im Licht der aufgehenden Sonne unter einem wolkenlosen Himmel vergessen konnte.

Nachdem sie ihm offensichtlich einen Korb gegeben hatte und auf sein freundlich gemeintes und eher neutrales „Hallo“ ziemlich wenig reagiert hatte, begann er sie äußerst interessant zu finden. Nur: sie begegnete ihm in der darauffolgenden Zeit nicht mehr.

 

Der Winter 2001 ging mit den immer wiederkehrenden Bildern im Fernseher von den beiden

Flugzeugen, die in das World Trade Center rasten, vorüber und die Welt sollte sich ändern in den kommenden Jahren. Nicht gerade zum Besseren.

Er weiß bis heute nicht, ob er es sich nachträglich einbildet, aber lag in ihrem Blick damals bei ihrer ersten Begegnung, den sie ganz weit nach vorne richtete, ganz so, als sei dort oben am Ende der ansteigenden Straße eine Feenwelt, in die sie, wenn sie an ihm vorüber geradelt war, mit Sicherheit eintauchen würde, nicht auch eine unendliche Traurigkeit?

Eine Traurigkeit, die er in den nachfolgenden Jahren noch des öfteren bei Jugendlichen entdecken sollte, die in einer Zeit aufwuchsen, in der Kriege, Arbeitslosigkeit und ein immer absurder werdendes Politiktheater an der Tagesordnung waren und als ganz normal verkauft wurden.

 

Dann aber tauchte sie wieder auf wie aus dem Nichts und haute ihn um. Ihre Instrumententasche und ihr Aussehen zusammen genommen waren nicht von dieser Welt. Sie wirkte irgendwie aus der Zeit herausgefallen, ganz so, als wäre vielleicht schon früher etwas in ihrem Leben passiert, worüber sie die ganze Zeit ganz stark und intensiv nachdachte.

 

Er wusste es nicht. Sie gewährte ihm keinen Einblick in ihre Welt und er musste damit klarkommen, so sehr er es sich auch gewünscht hätte. Sie war damals noch ein richtiges Kind, nicht wirklich ein Teenie, und er konnte nur ahnen, was in ihr vorging.

Ihre offensichtlichen Pubertätsgefühle erinnerten ihn rein intuitiv an die Zeit, in der er 14, 15, 16 oder 17 war, völlig verunsichert von dem, was im eigenen Körper ablief, mit etlichen Stimmungstiefs und leichten Depressionen, aus denen er jeweils nach quälend langen Wintermonaten wieder auf dem Fußballplatz bei seinen Freunden oder später in den Kneipen und Discos herausfinden sollte.

 

Er merkte irgendwann, dass er keinen einzigen richtigen guten Freund hatte, einen, dem man alles sagen konnte, und diese Erkenntnis machte ihm schwer zu schaffen damals. Mit Mädchen wollte er sowieso nicht allzu viel zu tun haben in dieser Zeit – die er von der Schule her kannte, fand er alle zu spießig und wohlerzogen, als dass sie ihn wirklich interessiert hätten. Das war er suchte, war nicht im Angebot. In der Vereinsfußballmannschaft ging es anders zu, da wurden die Pornohefte nach dem Training in der Kabine herumgereicht und jeder guckte hin und lachte blöd.

 

Als er sie das erste Mal sah, musste er unwillkürlich an diese Zeit in seinem Leben denken,

obwohl es 20 Jahre zurücklag….

 

In den letzten Novembertagen 2001 hörte er viel Musik und schrieb am Computer kurze Texte, die nicht zueinander passten und fragmentarisch blieben. Drei, vier längere Texte entstanden, die waren richtig gut und vor allem witzig. Sie blieben in der Schublade liegen, wie so vieles. Seinen Job als Popmusik-Kolumnenschreiber hatte er verloren; es hieß, sie hätten kein Geld. 2 Jahre lang hatte er dort sein ganzes Herzblut in die monatlich erscheinende Musikkolumne „Written In My Soul“ investiert und darüber hinaus etliche aktuelle CD- und Konzertkritiken verfasst. Er war mit seiner Arbeit im Großen und Ganzen zufrieden und war auch der Meinung, dass er gute Arbeit ablieferte; er bekam deutschlandweit entsprechendes Feedback, aber offensichtlich interessierte das seinen Arbeitgeber relativ wenig.

 

Ihr rotbraunes Haar und ihre blauen Augen passten auf den ersten Blick überhaupt nicht zusammen, fast wirkte es kitschig, zuviel des Guten. Sie hätte auch die schon lang gegangene irische Schönheit von der Portobello Road in London sein können, die keine englische Rose war, aber der blinde schwarze Sänger wusste das, weil er genug gesehen hatte und er schenkte ihr ein altes irisches Lied.

Er schenkte ihr ein Lächeln und er fragte sich auch, ob das alles Wirklichkeit war, was er da sah und vergaß sie.

Die Bockigkeit in ihrem Blick war ihm damals nach World Trade Center und einsetzender Weihnachtsmarktdauerberieselung entschieden zuviel.

 

Er sollte sie wiedersehen. Ein halbes oder ganzes Jahr später begegnete sie ihm in der Stadtbibliothek. Sie saß vor dem Computer. Offensichtlich arbeitete sie mit ihren Schuldfreundinnen an einem gemeinsamen Referat. Sie recherchierten im Internet. Als eine Mitschülerin von ihr laut über das Nichtgelingen des Referats oder irgendwelche Probleme mit dem PC-Programm nachdachte, sagte sie ganz nebenbei und aufreizend lässig, mit einem unterdrückten Lachen in der Stimme: „Nee…..“ Es wirkte definitiv. Er saß zwei Tische daneben und war erstaunt über den Klang in ihrer Stimme und die Entschiedenheit, die darin lag. Oder war es nur gespielt? Es kam ihm vor, als sei sie zum Lügen nicht geboren worden. Sie sprach wie die Stille. Die Ruhe, die in ihrem Wesen war, brachte ihn zum Schmunzeln. Wann hatte er damals das letzte Mal einen Menschen so ruhig und gelassen ein „Nein“ aussprechen hören? Was brachte sie dazu, sich so souverän und anscheinend ohne die leisesten Selbstzweifel zu äußern? Was bitte ging in ihm vor, dass ihn dass überhaupt interessierte? Sie war höchstens 16, er 36. Sie sah aus wie 12. Der Babyspeck in ihrem Gesicht veranlasste ihn, von weiteren Überlegungen Abstand zu nehmen und er konzentrierte sich wieder auf die langweilige Musikzeitschrift, die vor ihm auf dem Tisch lag.

 

In der Zeit schrieben sie damals über die Martin Walser-Debatte – ob und wie oft Auschwitz als „moralische Keule“ benutzt werden durfte, die deutsche Schuld am jüdischen Volk für immer und ewig am aufrecht zu halten. Nicht nur, dass die Debatte an sich und Walsers Wortwahl irgendwie daneben war, es war ihm irgendwann gleichgültig.

Im Zimmer seiner Tochter lag unter dem hellen Limmat-Holzboden ein jüdischer Grabstein.

1944/45, als das Material zum Häuserbauen bereits knapp wurde, wurden vom nahen jüdischen Friedhof von ortsansässigen Nazis Grabsteine geraubt und als Hausfundament für neu gebaute Wohnungen für deutsche Kriegsflüchtlinge eingesetzt.

Er hatte sozusagen seine deutsche Geschichte vor Ort, greifbar nah, und sie wird ihm voraussichtlich erhalten bleiben – solang kein irrsinniges Amt mit dem Ansinnen daherkam, den Grabstein wieder auszugraben.

 

Von den ehemals 260 am 14. Juni 1944 durch das Stadtbauamt festgestellten Grabsteinen des Judenfriedhofs waren am 16.6. 1947 200 wieder vorhanden und ausgerichtet, während 60 noch fehlten, davon 34 von Personen, deren Namen nicht bekannt sind. Um den Sachverhalt der Zerstörung, die Schuld der Verantwortlichen und der Beteiligten auch etwaige zivilrechtliche Ansprüche an die Stadt festzustellen, hat der Bürgermeister der Stadt am 9. Mai 1947 ein Gerichtsverfahren zur Ahndung der Straftaten eingeleitet, zumal etwa 26 Grabsteine noch ganz fehlten. Das Augsburger Landgerichtet hat am 4.5.1948 und im Wiederaufnahmeverfahren am 8.2.1949 zu Recht erkannt, dass die 7 Angeklagten aus N. nicht schuldig im Sinne der Anklage sind.

 

 

2

 

 

Er sollte sie für eine lange Zeit aus den Augen verlieren. Komischerweise war es aber so, dass jedes Mal, wenn sie ihm ein oder zwei Jahre später wieder begegnete, alles wie das erste Mal war. Ihre Art zu gehen, ihr intensiver, in sich ruhender, zunehmend neugieriger werdender Blick, gepaart mit ein klein wenig Frechheit, ihre Anmut, wenn sie einen ansah ohne Vorurteile und Leitkultur im Kopf begannen ihn so langsam für sie einzunehmen.

 

 

Er weiß bis heute nicht, ob es sich wirklich so zugetragen hat oder ob er es sich nach dem dritten oder vierten Bier nur einbildete, aber beim Maifest 2005 stand sie ihm einige Biertische weiter gegenüber und sah ihn an. Zuerst minutenlang, dann, wie es ihm schien, eine halbe Ewigkeit. Er saß mit seinen deutschen Freunden zusammen, von denen die Hälfte ukrainischer, italienischer und schwedischer Abstammung war, und sie lachten und tranken, während die Kinder ihre lustigen Maifest-Streiche spielten wie Zahnpasta auf die Türklinken oder Majo auf die Fahrradsättel zu schmieren.

 

Es war ihm egal, was sie taten, wenn sie nur wenigstens halbwegs anständig im späteren Leben sein würden. Das Maifeste war gelassen und schön und gleichzeitig von ziemlich lauter, schlechter, aber wenigstens fetziger Musik umrahmt, und sie stand da und sah ihn an.

Er erzählte Witze und Zoten und kleine dreckige Geschichten aus dem Leben von uns allen, und seine Freunde saßen da und hörten ihm zu und lachten. Es war noch hell und es war warm und die Luft duftete nach Blumen, auf jeden Fall schien auch sie schon etwas betrunken zu sein. Sie sah ihn an mit einer Bierflasche in der Hand und sah ihn an und sah ihn an.

 

Irgendwann begann er die Situation lustig zu finden und fing, in seinen Handbewegungen und Gesten zunehmend theatralischer zu werden – er fand Gefallen an der Möglichkeit, eine kleine Privat-Theateraufführung zu geben. Es war zwar kein Sex, aber mindestens genauso prickelnd. Er überlegte sich immer absurdere Geschichten, die ihn selber zum Lachen brachten und er sah in ihrem Gesicht, wie sie zusehends schmunzeln musste. War sie es überhaupt. Träumte er?

 

Er hatte sie kurz zuvor, am ersten wirklich schönen Märzfrühlingstag nach einem langen, brutalen Winter zusammen mit ihrer Mutter draußen auf den Feldern hinter der Stadt beim Spaziergang getroffen; der warme Wind wehte von der Seite in ihr langes Haar und zerzauste ihre Frisur, aber sie lachte wie die Blumen. Es war hinreißend, sie plötzlich so glücklich zu sehen, und anscheinend hatte sie alles, was sie brauchte.

 

Da fiel ihm ein, er hatte sie schon lange nicht mehr mit ihrer Instrumententasche die Straße herauffahren sehen – wo war der nur geblieben? Hatte sie das Instrument beiseite gelegt und aufgehört zu spielen?

 

 

Er stand von seinem Biertisch auf und ging hinüber zu der Gruppe von Jungs, bei denen sie stand. Es interessierte sich offensichtlich keiner von denen für sie und sie interessierte sich nicht für sie, sie stand völlig gelangweilt herum. Er tat unauffällig und näherte sich dem penetrant riechenden Würstchenstand, von dem die Leute versammelt waren: Sie war es.

 

Sie wirkte zerbrechlicher als alle anderen Menschen, die er bisher in seinem Leben getroffen hatte; er hätte sich nie getraut, sie anzusprechen. Er hatte damals lange, zottelige, wildwachsende Haare, vielleicht muss er auf sie wirkt haben wie ein Pirat oder ein Räuber oder wie „Hagrid“ aus Harry Potter. So ähnlich sah er auch aus und genauso alt und beschissen fühlte er sich auch. Wieso starrte sie so lange zu einem alten, unbrauchbaren Mann herüber? Konnte er ihr ein bisschen Spaß bieten oder amüsierte sie sich nur über ihn? Weil aber seine Sinne noch alle ihre Arbeit taten, vermutete er schwer, dass Letzteres der Fall war.

Ihre Blue-Jeans waren knalleng. Sie sah aus wie aus einem Westernfilm, unnahbar, wesentlich.

 

Er setzte sich wieder zu seinen Freunden und zu seiner Frau und trank noch ein Bier oder zwei. Irgendwann an dem Abend vor dem ersten Mai begann er sich sehr einsam zu fühlen. Er dachte sein ganzes Leben durch, all die Hoffnungen, Träume, die Enttäuschungen, die Liebe, das Glück und den Blues, der einen dann doch immer wieder einholte. Die Hand einer langjährigen Freundin neben ihm begann seine Hand zu streicheln, sie merkte wohl, dass er wenigstens ein paar Streicheleinheiten nötig hatte; er grinste noch ein wenig blöd in die Gegend. Er hätte plötzlich Lust gehabt, mit ihr zu vögeln, weil sie gar nicht mehr aufhörte, ihn zu streicheln, aber dazu war längst zu spät. Sie war wohlanständig verheiratet mit ihrer Sandkastenliebe und war glücklich dabei. Jedenfalls war es das, was sie ihm die ganze Zeit vordeklinierte, obwohl ihm ihre Augen ständig etwas Anderes offenbarten.

Seine kleine Freundin und Zuseherin bei seinem improvisierten absurden Theater von zuvor war irgendwann verschwunden.

 

Er dachte über all die Jahre nach und was sie eigentlich gebracht hatten. Ihm fiel nicht gerade viel Sinnvolles ein, obwohl das natürlich nicht stimmte.

 

Wo schlief sie wohl heute nacht?

Allein, zu zweit; war sie in irgendwen verliebt?

 

 

3

 

 

Die gleiche Frage stellte er sich, als sie ihm ein paar Tage später nach Pfingsten wie der heilige Geist persönlich erschien. Neben seiner alten Wohnung auf der Straße. Sie trug weiße Knöpfe im Ohr, offensichtlich ein MP3-Player. Sie fuhr Rad, kreuzte die Straße und hörte Musik. Sie sah verdammt elegant aus. Er stand da, mit dem Auto, die Ampel auf Rot, die Familie neben ihm im Auto und vollkommen genervt von den ewigen Auseinandersetzungen mit seiner Frau, die in der letzten Zeit überhand genommen hatten. Aus jeder Kleinigkeit wurde inzwischen ein Streit und aus jedem Streit kam keine Klärung mehr wie früher, sondern fast nur noch schlechte Stimmung.

 

Sie sah vollkommen glücklich aus, wie sie da auf dem Rad saß und lachte, während sie Musik hörte. Die Musik muss ihr ziemlich viel gegeben haben, oder kam sie gerade von einem Rendezvous, da ihr der Schalk so ins Gesicht gemalt war? Sie wirkte arrogant, großartig, verletzlich, unberührbar, sentimental, stark und stolz, alles auf einmal, und sie machte ihn glücklich, wenn er sie so sah. Und er wusste nicht ein noch aus in diesem einen Leben seiner neun Leben, und er fragte sich, wie er selber jemals wieder so glücklich werden könnte wie dieses Mädchen in diesem Moment war, als sie an seinem heruntergekurbelten Autofenster wie in Zeitlupe vorüberfuhr.

Er weiß heute nicht mehr, was er damals dachte, aber vielleicht war es das: o je, Scheiße,

schon wieder Streit heute, dabei scheint doch die Sonne, was hörst du denn da für schöne Musik?

 

Er erwies ihr seine ganze Aufmerksamkeit, eine kurze Kopfbewegung, und dann begannen ihre blauen Augen zu leuchten, wie er noch nie zuvor blaue Augen hatte leuchten sehen. Sie strahlte übers ganze Gesicht – vielleicht war sie ja Millionärin geworden an dem Tag oder sie war unendlich verliebt in einen Jungen in ihrer Klasse, man weiß es nicht – auf jeden Fall verstand er ihre Reaktion nicht ganz, weil er zuvor ein Jahr lang gar nichts mehr gefühlt hatte.

Er musste erst wieder lernen, zurück ins Leben zu finden. Gefühle waren für ihn spanische Dörfer. Jetzt war der Moment da, wo die Tür endlich wieder aufging und ein Lichtstrahl hereinkam, so wie an dem Tag, als ihn etliche Monate später in Barcelona auf der Placa Espanya neben der alten Stierkampfarena unter der monumental schönen Kulisse des Palau Nacional der Geruch des Lebens empfing, als hätte er nie zuvor gelebt.

Er reagierte abwartend, es lief alles binnen Zehntelsekunden; er blinzelte und kniff die Augen abwartend zusammen wie bei einem Showdown. Er war ratlos. Sie hatte ihn angelächelt, als

hätte er ihr gerade einen Heiratsantrag gemacht und sie hatte jahrelang genau darauf gewartet.

Das war zuviel.

 

Was hatte sie für Gedanken? Wohin fuhr sie?

Neben ihm saß seine Frau und bekam von all dem garantiert nichts mit, weil sie in ihren Gedanken wie fast immer völlig woanders war als er.

 

 

4

 

 

Bald dachte er darüber nach, dass er seinem Schutzengel Briefe schreiben könnte. Er tat es natürlich nicht. Schutzengel – so nannte er sie von nun ab und zu – haben kein Postfach. Oder sollte man Seelenverwandte sagen, denn da sie ihm danach, nach diesem Blickkontakt an der Ampel, nicht mehr aus dem Kopf ging, muss irgendetwas stattgefunden haben zwischen ihrer Seelenleben, was ihm allerdings wie aus einem anderen Leben vorkam. Diffus und unbestimmt, doch greifbar nah. Er konnte es sich nicht erklären und sie sich wahrscheinlich auch nicht, denn danach wirkte sie nicht nur einmal vollkommen irritiert.

Ihn quälte eine Frage: War er zu weit gegangen? Er hatte ja gar nichts getan, außer ihr mehr oder weniger freundlich zuzunicken und ihr zu signalisieren, dass es ihn freute, dass jemand so derart selbstvergessen in Musik abtauchen konnte. Er wusste nicht, wo sie herkam, wo sie wohnte, wer sie war, er wusste weder ihren Namen noch ihre Adresse oder ihr Alter. Sie wirkte auf ihn immer noch wie 15. Er wurde 40 heuer, das war wohl ein wenig zuviel Altersunterschied für eine funktionierende Beziehung gleich welcher Art. Nicht nur einmal danach konnte er ihrem Blick Angst entnehmen –

Angst, dass er ihr eventuell zu nahe treten könnte. Er merkte es, und sie wirkte auf ihn plötzlich wie ein eingeschüchtertes Reh. Er begann sich schlecht zu fühlen. Er wünschte sich, er wäre ihr auch an diesem strahlend schönen Sommermorgen in der Stadt nicht begegnet, an welchem sie zur Seite sah, als wäre er nicht da. Dabei hatte sie ihn Sekunden vorher noch ganz intensiv angesehen. Ihre von Michelangelo ausgedachte Nase wirkte blasiert, ihr ganzer Gesichtsausdruck war blasiert und leicht verächtlich. So was gefiel ihm außerordentlich.

Er ärgerte sich aber, ihr zugelächelt zu haben – warum nur übersah sie ihn jetzt einfach?

 

Jetzt wurde es zusehends komplizierter.

Er wusste jetzt aber, dass sie in einer Band spielte. Er besuchte eine öffentliche Probevorstellung. Plötzlich stand sie in der Konzerthalle mit ein paar anderen pickligen Jungs auf der Bühne und es verschlug ihm fast den Atem. Eleganter konnte niemand aussehen auf einer Bühne, auch nicht eine Madonna.

Das also war das Instrument, das sie damals, vor Jahren, immer an seiner Wohnung vorbei auf dem Rücken getragen hatte. Eine Bassgitarre. Sie spielt Bassgitarre in einer Band, deren Sound ihn nicht gerade in Ekstase versetzte. Ihr Spiel jedoch hörte man heraus – sie war gut.

 

An dem Tag begegneten sie sich ein paar Mal, und sie sah ihn mit einem derart ausdruckslosen Blick an, dass er es niemals auch nur im Traum gewagt hätte, sie anzusprechen.

Sie wirkte auf ihn jetzt vollkommen weggetreten und seltsam. Danach setzte sie sich mit einer Freundin auf ein paar Treppen, vor denen er gelangweilt herumlungerte und sah ihn wieder an. Aus der Distanz, in Sicherheit. Minutenlang. So ging das hin und her und irgendwann trafen sie sich wieder vor der alten Musikschule. Sie stand hinter ihm und ging danach wieder weg mit ihrer Freundin. Er sah ihr hinterher und begaffte ihren wundervollen Hintern. Sie merkte es und lachte zur Seite hin und schüttelte leicht den Kopf. Es war irre, vollkommen pubertär und sexy. Er wusste nicht, ob er sie überhaupt noch ernst nehmen durfte, sie kam ihm vor wie eine Sphinx mit 1000 Rätseln, die zu lösen er nun wirklich keine Kraft und Lust mehr hatte.

 

Er beschloss, sie zu vergessen.

 

 

5

 

 

 

Dies gelang ihm vorzüglich. Kurz darauf war ein Konzert mit ihrer Band, bei einer offiziellen

Verabschiedung an einer Schule; er ging nur wegen ihr hin. Er wusste ja, dass sie dabei war.

Als er zu spät zu der Veranstaltung aufkreuzte, stand sie gleich hinter der Eingangstür in der Halle und hatte einen verträumten Sommerabendblick im Gesicht. Er ging schnurstracks an ihr und all den anderen herumstehenden Nasen vorbei und grüßte niemanden. Seine Energie, mit der er durch die Halle wirbelte, musste sie etwas verwirrt haben, denn danach kam sie mit leicht geröteten Wangen auf die Bühne. War sie aufgeregt wegen des Auftritts oder hatte sie wieder Angst bekommen? Er war sehr unsicher, so hatte er sie nie zuvor gesehen, beschloss aber, sich nun in Zukunft nicht mehr so irre zu machen. Es kam ihm vor, als saßen sie Stunden in dem Saal, als ein bedeutungsloser Redner nach dem anderen langweiligen, bedeutungslosen Quark erzählte. Er sah und hörte nur sie, ihren Herzschlag. Sie sah ihn die ganze Zeit von der Bühne aus an. Er sah sie an.

So ging das bestimmt eine Viertelstunde lang, während die Band auf der Bühne hinter den Rednern postiert auf ihren Einsatz wartete. Er verliebte sich jetzt völlig in ihre blauen Augen.

 

Danach waren Woche der Leere. Keine Flirts mehr, der große Regen kam. Im August.

Er sah sie nicht wieder, sie war weg, die Sonne war weg – halt, zweimal tauchte sie auf, in seiner Straße, an Tagen, an denen die Sonne schien. Sie lief grazil wie eine Gazelle auf dem warmen Asphalt, sie bewegte sich fast lautlos. Er sah ihr hinterher und war nicht verwundert,

dass es wenige Stunden, nachdem er sie aus seinem Blickfeld verloren hatte, wieder zu regnen anfing. Endlos.

 

 

Als er von der Reise mit seiner Tochter zu einem Freund und dessen Familie nach Barcelona Anfang September wieder zurück war und bald darauf seinen 40. Geburtstag feierte, sah er sie ein, zweimal vor der Schule, im Auto sitzend, sehr, sehr schön und zurückhaltend. Er hätte sie umarmen mögen.

 

Einmal war sie noch vor seinem Haus vorbeigelaufen, abends, er war zurück vom Schwimmen am Weiher und stand braun gebrannt in der Hofeinfahrt und fühlte sich stark und gut wie lange nicht mehr, eine Woche Katalonien im Gesicht, sweet Barcelona on his mind und strahlend blaue Septembertage im Kopf und die rotbraune Katze im Arm. Sie ging an ihm vorbei mit Angst in den Augen, sie konnte nicht hersehen – er konnte nichts tun. Er wäre sich schlecht vorgekommen.

Er tat auch nichts – sie sah nur zur Seite und fasste sich, als sie an ihm vorbeigegangen war, an den Hintern. Was sollte das jetzt wieder, fragte er sich nur verzweifelt?

Er musste lachen – war sie eine Idee schlauer als er oder war sie nur ein wenig sensitiv?

 

 

Einen Tag nach seinem 40. Geburtstag stand sie plötzlich hinter ihm im Drogeriegeschäft.

Er war glücklich an diesem Tag, hatte unbeschwert gefeiert und ihm war nicht nach Altern zumute.

Er stand vor der Kasse und merkte, dass jemand hinter ihn trat, ganz nah an ihn heran. Er konnte ihre Nähe fühlen und drehte sich um. Sie stand da, ohne Angst, vollkommen schön.

Er blickte ihr tief in die Augen, sie sah kurz zurück, dann konnte sie seinem Blick nicht länger standhalten. Es waren winzige Sekundenbruchteile, in denen er ihre ganze Unsicherheit sah, ihre sexuelle Unerfahrenheit, ihr Zögern und Zaudern. Sie schämte sich und blickte zur Seite und wirkte sehr kleinlaut, wo sie ein paar Tage zuvor noch wie eine Bella Donna an ihm vorbeigelaufen war.

Er ließ sie ihn Ruhe. Offensichtlich gab sie sich auch noch große Mühe, all ihre Gefühle vor sich selber zu verstecken – und erst recht vor ihm.

Er bemühte sich ihr zu zeigen, wie sehr er sie mochte, wie sehr sie ihm gefiel, aber auch, dass er sie zu nichts zwingen wollte. Sie schien es zu begreifen und war selber irgendwie verwundert darüber. Er drehte sich um und seufzte. Er wusste langsam auch nicht mehr, was er tun sollte. Sie wirkte auf ihn so verletzlich und scheu und sie war so jung. Er wusste wirklich nicht, was er machen sollte. Wie konnte er es wagen, sich in sie zu verlieben?

 

Die Kassiererin nahm aus Versehen die Dose TicTac, die er vor sich liegen hatte, zu der Ware der alten Dame, die vor ihm stand, und er murmelt etwas von: „Das ist meins. Entschuldigung.“ Die Entschuldigung war für die junge Dame hinter ihm. Er entschuldigte sich bei ihr um drei Ecken, dass er sie zu oft angesehen hatte und vor allem einmal zu intensiv. Er war sich sicher, sie würde es verstehen.

Wortlos ging er von der Kasse weg und hinaus – draußen wusste er erst recht nicht mehr, wie ihm geschah. Er hätte sie ansprechen können, aber langsam hatte er die Nase auch ein wenig voll. Er wurde von einem Moment auf den anderen sehr traurig und hoffnungslos.

Das Ganze war ein einziges Desaster, vollkommen verkrampft. Er ging zu seinem Rad und sie kam hinterher und ging zu ihrem, welches daneben stand, und sie lächelte wie weggetreten und sah zur Seite und fuhr weg.

Er zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch in den erfrischend klaren Septembermorgen.

 

 

 

6

 

 

Sein Schutzengel kam ihm wieder entgegen an einem strahlend bunten Oktobersonntag. Es war ein Bilderbuchoktober, ein Tag schöner als der andere, aber leider nur schwer zu ertragen ohne sie. Er war kurz zuvor eine Woche nach London gereist und war jeden Tag in der Stadt herumgelaufen, in seinem Herzen immer nur sie.

Tausende und Abertausende Schönheiten kamen ihm auf den Straßen entgegen und saßen mit ihm im Bus und in der U-Bahn; black Beauties aus Jamaika umschwirrten ihn in Tottenham und in Brixton; blasse englische Studentinnen lachten ihn an in Highbury und im Crouch End.

Doch in der Portobello Road sah er in jeder portugiesischen Frau, die ihm dort über den Weg lief, nur ihre Gesichtszüge. Es war alles wie ein Traum, der in der Stunde im Alexandra Palace kulminierte, in der die Zeit stehen blieb und in der er ganz allein auf einem Hügel in Nordlondon war, inmitten eines wundersamen Gebäudes mit einer großen Glaskuppel und innen drin jede Menge exotischer Pflanzen. Es roch wie in einem Gewächshaus. Er begab sich in eine stille Ecke und sprach in seinen Gedanken mit ihr. Er hörte auf seine innere Stimme, wie sie von selber zu sprechen begann. Sie war bei ihm, sonst war keiner da. Er fühlte nur Liebe und Dankbarkeit. Die Welt war für ihn total still geworden. Im Jahr 2005. Das hätte er nicht mehr für möglich gehalten.

 

Aus einem Text im Internet: „Ally Pally“ wird er genannt: Alexandra Palace, auf einem Hügel in North London zwischen Muswell Hill und Wood Green. 1873 wurde er gebaut, Entertainment und recreation für die Bevölkerung, das war die Idee. Und die Massen strömten, um sich an dem Park um den Palast, Ausstellungen und allerlei anderer Kurzweil zu erfreuen. Aber sie strömten nicht lange, denn genau sechzehn Tage nach der Eröffnung brannte das Gebäude bis auf die Grundmauern nieder. Zwei Jahre dauerte der Wiederaufbau, und 1875 öffneten sich die Türen wieder. Es gab ein Museum, einen Konzertsaal, Ausstellungen, ein Theater, eine Bücherei, Abendveranstaltungen und für viele Jahrzehnte war der Palast ein großer Erfolg. 1900 wurde der Alexandra Palace and Park Trust gegründet. Ally Pally sollte für immer ein Palast für das Volk bleiben.
1935 leaste die BBC den östlichen Teil des Gebäudes und installierte einen Antennenmast. Wegen der exponierten Lage war der Palast ideal für broadcasting Zwecke. Ein Jahr später: Die erste Fernsehausstrahlung in England: „This is direct television from Alexandra Palace”. Bis in die fünfziger Jahre produzierte die BBC im Palast in zwei Studios. Heute noch gibt es Ausstrahlungen. 1980 war es dann mal wieder soweit. Ein Feuer zerstörte nahezu die Hälfte des Palastes. Diesmal sollte die Restaurierung acht Jahre dauern. Seitdem kriselt es finanziell. Es gibt immer noch regelmäßig Ausstellungen, eine Eisbahn wurde installiert, aber die magische Anziehungskraft der frühen Jahre ist dahin. Die Great Hall gehört zu Londons größten banqueting halls. Bis zu 5.000 Menschen kann man unterbringen. Aber die Konkurrenz unter den London evening venues ist gross, und der Palast liegt eben nicht im Zentrum der Stadt.Wegen der angespannten finanziellen Lage hat sich der Trust entschlossen, mehr als dreißig Firmen anzusprechen, um den Palast langfristig zu vermieten und umzubauen. Viele Projekt werden diskutiert, und allein sechs Investoren haben sich interessiert gezeigt, den Palast in ein casino umzuwandeln. Bis 2006 werden in England die gambling laws erheblich aufgelockert sein, und man erwartet einen Gluecksspiel boom in der Stadt. Soviel zum Thema people’s palace.
Bis es soweit ist und sich der Trust entschieden hat, lohnt sich der Besuch trotzdem. Die Sicht über die Stadt ist spektakulär und gehoert zu den schönsten in London überhaupt, neben Chrystal Palace Park,
Parliament Hill und Black Heath. Wie immer, morgens früh kommen. Dann ist es am schönsten. Mit etwas Glück ist man ganz für sich allein, und London liegt einem zu Füssen.

Es war merkwürdig: als wäre sie mit ihren mystischen blauen Augen direkt hier, vor ihm, an der Busstation in Muswell Hill aus dem alten roten Bus mit ihm ausgestiegen und die paar Meter mit ihm durch den wunderbaren Park gelaufen und als wäre sie schon vor langer, langer Zeit in der Sommerzeit in England geboren worden und er erinnerte sich an den Moment im Drogeriegeschäft, als sie so nah bei ihm war. Die ganze Zeit an jenem Vormittag sprachen sie miteinander. Das wurde ihm erst jetzt bewusst, als er Nordlondon vor sich Richtung City starrte, welche unendlich weit weg schien.

Als er ihr an diesem Oktobersonntag mit dem Rad begegnete, hatte er sie insgeheim schon den ganzen Tag gesucht, in der Hoffnung, er würde sie irgendwo sehen. Sie kam dann tatsächlich noch um die Ecke seiner Straße geradelt, kurz vor Sonnenuntergang, in unendlicher Langsamkeit. Sie musste geweint haben, ihre Augen schienen voller Tränen zu sein.

 

7

 

Gut anderthalb Monate später stand er auf dem Weihnachtsmarkt herum, mit einer Freundin und trank am Samstagmorgen einen Glühwein. Er war großartig gelaunt, aufgekratzt und lustig und mit Absicht ein bisschen verrückt und er spürte es, dass sie ihm an diesem Morgen über den Weg laufen würde. Plötzlich stand sie da, genau in der Sekunde, an der er an sie dachte – ein paar Schritte von ihm entfernt und wagte einen scheuen Blick. Kurz. Sie zog die Augenbrauen und die Schultern hoch, ganz so, als ob sie sagen wollte, dass sie nicht wusste, was sie tun sollte. Sie zeigte ihm, dass ihr kalt war. Danach machte sie wieder zu. Anscheinend hatte sie diese Botschaft an ihn an diesem Wintertag. Verletzlich, großartig, stolz.

Er war auch stolz auf sie. Sie war Afrika und Barcelona und die Akropolis von Athen und London und Paris und all die schönen Momente, die er in seinem Leben zuvor erlebt hatte. Sie war da, bei ihm, die andere Hälfte von ihm, der Frieden, den er jetzt schon so lange vermisste. Sie war in seinen Augen die schönste Frau auf diesem Planeten.

Inzwischen wußte er nicht mehr so recht, was er tun soll und wie es nun weitergehen sollte . Er ging zu seiner Hausärztin und erzählte ihr den ganzen Mist – die Probleme mit seiner Frau, die er nach wie vor wirklich liebte wie niemanden sonst in seinem Leben, den Frust mit den immer weniger werdenden Gemeinsamkeiten und der Frust mit der fehlenden Nähe und der fehlenden Liebe und der fehlenden Zärtlichkeit nach 16 Jahren und er erzählte ihr von seiner „Beziehung“ zu seinem Schutzengel. Zum ersten Mal nach sechs, sieben Monaten erzählte er einem anderen Menschen von seiner heimlichen Liebe und wie sehr er sie liebte und dass er nichts dagegen tun konnte, so sehr er es sich auch gewünscht hätte, um die Sache endlich wieder einfacher zu machen.

Was sollte er auch sonst noch tun?

Als er von Arztpraxis in die Stadt fuhr, war er seltsam erleichtert. Erleichtert,  endlich einen dritten Menschen mit in diese endlose Hängepartie und seine Sehnsucht einbezogen zu haben, die sich nun seit Monaten so hinzog und immer stärker anwuchs.

Er fühlte sich weder besonders stark noch besonders schwach. Er war einfach da. In ein paar Tagen war Weihnachten und bestimmt wird er da seinen Schutzengel nicht treffen, denn der wird wahrscheinlich an die Küste von Barcelona verreist sein. Oder nach Rio. Von wo aus sie sicher wieder zurück kam.

Er wird sie irgendwann wiedersehen und jedes Mal fällt ihm nix ein außer diese Augenblicke der Zärtlichkeit.

Als er in der Stadt war, fuhr sie geradewegs neben ihm mit einer Freundin vor das Drogeriegeschäft mit ihrem Fahrrad. Die Freundin fragte sie, ob sie denn das schon einmal gemacht hätte und sie antwortete: „Nee….“

Freudestrahlend.

Er fuhr weiter, geschlagen, innerlich abwinkend. Gerade eben hatte er sich erleichtert gefühlt, jetzt wurde er schon wieder mit einer neuen Frage konfrontiert, die ihn mehr als brennend interessierte.

Was hatte sie noch nie gemacht?

Er fuhr weiter und wollte es gar nicht mehr wissen und musste dann doch wieder umkehren. Er war doch zu neugierig. Er wollte wissen, was sie noch nie gemacht hatte.

Er könnte sie ja fragen. Doch da stand sie vor dem Eingang, mit einem Kind auf dem Arm, und flüsterte zu dem Kind, das noch nicht sprechen konnte: „Was hast du denn gesehn? Was hast du denn gesehn?“

Es war das erste Mal, dass er sie zwei Sätze nacheinander sprechen hörte. Nicht nur ein Wort, das auch noch „Nee…..“ hieß.

Sie sprach zu dem Kind in einem so zärtlichen Ton, wie er ihn selten bei einer Frau gehört hatte.

Er blickte kurz auf den Kinderwagen, blieb kurz stehen und lächelte sie an.

Sie sah nicht richtig her. Nicht ganz jedenfalls.

 

Er glaubte, sie wusste, sie sah mit dem Kind auf dem Arm aus wie eine Heilige. Sie anzusprechen erschien ihm überflüssig. Er wollte nicht noch mehr durcheinanderbringen.

Außerdem war sie schöner, als es Worte sagen konnten.

 

8 & Epilog

 

Vor lauter Verzweiflung und Unentschlossenheit und Angst, auch nur einen einzigen Fehler zu begehen, den er später würde bereuen müssen und aus Angst vor erneut heraufziehenden Depressionen flüchtete er im neuen Jahr nach Barcelona. Die Unruhe in ihm wuchs von Tag zu Tag. Er fühlte sich zwischen vollkommen glücklich und rastlos und von einem Hunger nach Leben erfüllt, wie er ihn noch nie zuvor gespürt hatte. Die unzähligen Platten- und CD-Läden im arabischen Viertel El Raval waren voller Musik, doch egal welche Lieder er auch hörte, in denen irgendwie von der Beziehung zu weiblichen Wesen zumindest im Ansatz die Rede war – die einzig wirklich gute Musik, die es gibt? -, er sah ständig ihre großen Augen vor sich.

Gleichzeitig zwang er sich, an seine Frau zu denken. Und an seine Tochter. Und er bekam zusehends Bauchschmerzen. In seinem Kopf war Liebe, doch sein Körper schmerzte. Ihn plagten Rückenschmerzen. Er machte sich immer mehr Sorgen. Warum nur war es so kompliziert?

Vielleicht weil er ihr nicht die Worte gesagt hatte, die er hätte sprechen sollen, und er machte sich Vorwürfe deswegen und er hatte Angst vor der Einsamkeit der anderen. Seine Einsamkeit, als er tagsüber durch die frühlingshafte Stadt im Januar strich, machte ihm plötzlich auch etwas aus, obwohl es gut tat, sich einfach treiben zu lassen und allein zu sein. Und er fühlte sich gar nicht mehr frei und durcheinander, als er zum Hafen runterging, nachdem er im El Raval das nette Angebot einer schwarzen Prostituierten ausgeschlagen hatte, ihm seinen Schwanz zu lutschen.

Frei von konfusen Gedanken war er endlich wieder im Herbst in London gewesen, als ihm an einer Ecke an der Tottenham High Road an einem sonnigen Donnerstagvormittag der laute Sound einer Gospelplatte eines CD-Straßenladens so etwas Ähnliches wie ein Wiedererwachen all seiner Gefühle beschert hatte und mit einem Mal alle wirren Gedanken, die ihm eineinhalb Jahre zuvor das Leben mehr oder weniger zur Hölle gemacht hatten, wegblies, als wären sie nie da gewesen. Er musste weinen und lachen zugleich.

In Barcelona im Januar 2006 dachte er mit ständigen Schmerzen daran, dass seine Frau allein war. Was aber hatte sie ihm monatelang davor Anderes signalisiert, was sie am liebsten gewesen wäre? Dass er sich doch auch eine Andere suchen könne, hatte sie ihm gesagt. Dass das wohl am besten sei. Als er sie dann für eine Woche allein ließ, um erst mal Abstand von allem zu gewinnen, passte es ihr genauso wenig.

Mit der völligen Unentschiedenheit in seinem Herzen kam die Ängste aus der Zeit seiner schweren Depression zurück und er wusste nicht mehr, wo er hätte am besten sein sollen, in Spanien, zu Hause in Deutschland, bei ihr, bei seiner Tochter, bei seiner Frau, um genauso unglücklich wie seine Frau zu sein, aber was machte das alles schon noch aus? Die Tatsache, dass er weder mit seiner Frau über das Thema noch mit ihr über seine Liebe zu ihr gesprochen hatte, war bedrückend, aber die Entwicklung des Weltgeschehens ließen ihn seine Probleme eher unbedeutend finden.

Was ist schon die Problematik einer Ehe, die zu scheitern droht und eine unerfüllte, wirre Liebesgeschichte gegen einen Flächenbrand, den eine Handvoll idiotischer und unfähiger Politiker zustande zu bringen scheinen? Wo war die Zukunft von Kindern in einer Welt, die nur noch aus Hass und Lügen und Mord und Betrug und Diebstahl und Andere Auslachen und gegenseitigem Misstrauen zu bestehen schien? Von dem gegenseitigen Respekt und dem gegenseitigen Verständnis füreinander, in denen dann in den gekünstelten Reden, nachdem das Kind schon in den Brunnen gefallen war, die Rede war, konnte ja kaum noch ernsthaft die Rede sein. Wie kann man etwas einfordern, dass man selber zu geben nicht bereit ist? Wie können deutsche Politiker plötzlich von Ausländern in Fragebögen Toleranz gegenüber Homosexuellen einfordern, damit die bösen Ausländer zeigen, wie sehr sie doch ihr gutes Deutschsein demonstrieren mögen, obwohl genau diese Politiker selber jahrzehntelang genau das Gegenteil einer offenen Politik betrieben hatten? Die Liste von solch absurden Gewaltverbrechen am menschlichen Verstand und am christlichen Mitgefühl wäre lang, man kann sie in den jeweiligen Parteiprogrammen besonders der christlich-demokratischen Parteien in Deutschland vor Landtags- oder Bundestagswahlen in all den Jahren seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1949 nachlesen. Jegliche Änderungen diesbezüglich in Zukunft sind scheinheiliges Geschwätz und in Wirklichkeit lediglich ökonomische Anpassung an die irrsinnige Veränderung der ökonomischen Lebensverhältnisse der Menschen auf der ganzen Welt.

Aber Liebe ist das Brot der Armen – und davon schafft eine dummdreiste Clique von gewissenlosen Politik- und Wirtschaftsverbrechern weltweit, denen eine immer größer werdende Zahl von gewissenlosen und dummen, schwanzlutschenden Medienschaffenden eine immer größer werdende Aufmerksamkeit zu Teil werden lässt,  immer mehr, Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr – und wer je davon gegessen hat, weiß, was es heißt, sich in die Augen eines Engels zu vergucken, der von all dem anscheinend nicht die geringste Ahnung hat.

Unschuld und Naivität sind keine Schande, sondern ein großes Geschenk, das aber eines Tages genau wie ein ausrangierter Weihnachtsbaum weggeworfen wird und man kann dann sagen, man steht mit beiden Beinen in einem Leben, das in unseren Breitengraden eine zunehmende Art von völliger Verbiesterung erfährt, die nicht mehr zu ertragen ist.

Die Verrohung deutscher Kulturkreise durch intellektuelle deutsche Sturzbomber wie Dieter Bohlen, Florian Silbereisen und Konsorten ähnlicher debiler Couleur ist schon seit langem nicht mehr zu ertragen, „krass“ und „geil“ und „cool“ der oft einzig übriggebliebene Wortschatz einer sich nicht nur im jugendlichen Alter jede Möglichkeit eines Macht- und Geiz- und Geilvorteils verschaffende herumgeifernden Meute. Wohin mit all dem Frust, den persönlichen Niederlagen und Verwundungen, dem chronischen Pleite- und Verzweifelt-Sein, dem zunehmenden Irrewerden an einer erdrückenden Leblosigkeit eines innerlich vollkommen leeren Wohlstandslandes, das nach außen hin die Welt nicht nur einmal mit Krieg überzogen hat und auch in Zukunft wieder brav mitmischen möchte im weltweiten Konzert der Zerschlagung und Zerstörung von gewachsenen Gemeinschaften und nach innen schon fast immer einen Sündenbock gebraucht hatte, um überhaupt existieren zu können?

Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie vergeben, das ist so sicher wie das Amen in ihren christlichen Kirchen Sonntag für Sonntag, wo sich Prüderie und Korruption die Hand geben und in Sicherheit wiegen können, weil sie ihren Segen von einer klerikalen Klicke empfangen, denen der stets potentiell empfangsbereit sein müssende Messdiener zur Seite steht und denen die kleinen Mädchen artig zuhören – im Glauben, auch einmal so erhaben werden zu dürfen.

Dabei geht es nur darum, diesen Staat und andere weiter existieren zu lassen, so wie sie sind und niemals anders. Und frei nach Rilke: wer jetzt arbeitslos ist, der wird es lange bleiben. Die Abschaffung des Sozialstaates wird noch einige „Reformen“ nach sich ziehen. Damit nichts anders wird in Deutschland. Weil anders nicht geht und gefährlich ist, weil voller Abenteuer und Risiken und möglicher materieller Verluste für einige wenige Großschurken, deren finanzielle Absicherung durch die Enteignung ganzer Bevölkerungsschichten und sozial Benachteiligter eine Sicherheit im Land erzeugen sollte, die es nicht mehr geben wird. Für niemanden. So was schafft nicht mal mehr ein Klima der wohligen Herzenswärme, die sich dann im Musikantenstadel über ein Publikum ergießt, welches schon vor geraumer Zeit verstorben sein muss, sonst würde es sich selber wenigstens nicht ganz so arg vorführen lassen und noch über sich selber lachen können.

Es wird aber keine Sicherheit mehr geben.

Not here and there and evrywhere. It’s war, sugar baby.

Und um mit Leonard Cohen zu fragen: Is this what you wanted?

 

 

 

 

Exif JPEG Exif JPEG

lift your skinny fists like antennas to heaven

Written In My Soul

Dezember 2000

GSYBE

 

 

Neues vom Festland

 

 

Johnny Cashs neues Album, das kann man wohl ohne Zweifel sagen, wird eine der besten Platten des Jahres sein, da dieses ja eh schon fast vorüber ist und eigentlich nur noch die Greatest Hits-Alben der Stars für den Weihnachtsbaum plus die eine oder andere Überraschung dazu kommen können, doch fern dieser persönlichen Einschätzung dürfte „Solitary Man“ ohnehin mit einigen Zweifeln aufräumen. Wenn jemand wie Cash in ziemlich angeschlagenem Zustand – sein Gesang auf „Solitary Man“ erinnert manches Mal an die Verletzbarkeit von Townes Van Zandts’ letzten Aufnahmen, ohne jedoch dessen Gebrochenheit zu haben, und so merkt man auch schnell, dass Cash wieder über den Berg zu sein scheint – eine solche Aufnahme hinkriegt, dann frage ich mich, was nur all die gesunden und fitten Vorzeige-Amerikaner in Sachen Country da noch zu sagen haben wollen. Nichts, ich weiß, hatten sie eh fast noch nie, aber es wirkt schon hochgradig peinlich für all die Mainstreamware, wenn man den wahren Stoff neben sie stellt und Cash einfach nur Singen lässt, dann läuten die Glocken des Herrn und Cash bedankt sich artig bei ihm: „The Master of Life’s been good to me. He gives me good health now and helps me to continue doing what I love…New services to render and old wounds to heal. Life and love go on. Let the music play”.

Und so ist das, und dann legt man die CD in den Player und weiß, es ist gut. Verdammt gut, denn Cashs Weltsicht ist keine naive Religiosität, wie man das vielleicht in solche Zeilen wie eben zitiert hineinlesen könnte, sondern Lebenserfahrung, Weisheit – auch das Wort kann man hier wirklich verwenden – und Liebe zum Leben. Ohne die geht nichts, und ohne die wird auch keine gute Platte gemacht, aber was Cash mit der Zusammenstellung dieser Songs auf „Solitary Man“ geschafft hat, geht wirklich mitten ins Herz. Aus allen Liedern spricht soviel Freundschaft, Gemeinschaft und die Fähigkeit, auch über Grenzen zu sehen, wo andere nur abwinken. Der zentrale Song für mich ist „One“, von U2, eine Gruppe, die ich früher mal recht gern gehört hatte, dann irgendwann überhaupt nicht mehr, weil sie halt immer bombastischer und affiger wurden, doch was soll’s? Die CD „Achtung, Baby“, von der der Song ist, hab ich dann wieder mal aus der hintersten Ecke im Regal rausgezogen, ok, einiges ist wie immer halt nicht besonders geglückt, aber man hört diesen Song im Original und so groß ist der Unterschied dann eben doch nicht. Bonos Stimme ist zwar immer so leicht übertrieben und pathetisch, doch der Song ist gut und sogar U2 ist gut und ich frage mich, warum mich Johnny Cash wieder draufbringen musste und ich das alles schon abgeschrieben hatte. Der Song „One“ scheint mir in seinem Kern auf eben genau solche Sachen hinzuweisen, und so wie ihn Cash singt, höre ich auch raus: Hey, all ihr toughen Outlaw-Guys, da gibt’s so Popheinis, die haben einen solch guten Song geschrieben, hört doch mal her! Ach je, U 2, vergiss es, hör ich dann viele sagen, Cash ist gut, U 2 ist scheiße, aber so einfach ist das eben nicht.

 

Und dann geht es weiter und man hört Will Oldham, den ewigen Rätselhaften in seiner eigenen Verwirrnis und sein Lied „I See A Darkness“ wird im Duett mit Cash binnen weniger Sekunden zu einem gleichwertigen Klassiker neben Sachen wie „Lucky Old Sun“, „Mary From The Wild Moor“ oder dem über hundert Jahre alten „Nobody“ eines gewissen Egbert Williams, von dem ich nun wirklich noch nie was gehört habe. Man könnte die Lieder autobiographisch deuten, die Auswahl, auch in Bezug auf die persönlichen Liner Notes, aber ihre Botschaft geht weit darüber hinaus, Cash ist die Stimme, die einem Dinge vermittelt, die man schon immer geahnt, aber so eben noch nicht gehört hat. Die mitwirkenden Musiker von Tom Petty & The Heartbreakers und Sheryl Crow bis zu Merle Haggard und Norman Blake decken ein breites Spektrum ab, und nichts ist beliebig dabei, es sitzt alles wie der beste Anzug oder die Lieblingsjeans. Auf das Etikett kommt es dabei nicht an, denn: „Let The Music Play“. Das muss und kann nun jeder selber tun, man muss halt nur noch „Solitary Man“ käuflich erwerben. Gibt’s auch in Vinyl.

 

Begleitet von einem Haufen überschwänglicher Artikel und Statements ist die dritte Scheibe der Gruppe mit dem seltsamen Namen „Godspeed You Black Emperor“ erschienen. Karl Bruckmaier griff in seiner Popkolumne in der SZ und in zahlreichen Radiosendungen zu Superlativen und verglich die Musik mit den besten Hervorbringungen von Monumentalbrocken wie Velvet Underground, Roxy Music und Grateful Dead – wer’s genau nachlesen will, einfach im Archiv der Süddeutschen Zeitung unter www.sueddeutschezeitung.de bei Suchoptionen die Titelüberschrift „Raus aus dem Start-up-Hamsterrad“ eingeben. Wobei Godspeed You Black Emperor sogar noch besser seien, weil sich bei ihnen all das zu einem Ganzen füge, was jahrelang verstreut und zersplittert herumgelegen sei. Hhm. Nicht unwahr, das, aber wenn man dann eines der uninspiriertesten Stücke von Grateful Dead, nämlich „Terrapin Station“ in einer Sendung spielen muss, um die These eindrucksvoll zu untermauern, dann werde ich doch schnell skeptisch und denke an Kaisers neue Kleider. Artrock ging mir schon immer auf den Keks, sagt dann mein Rock’n’Roll-Frühwarnsystem, auch King Crimsons so eindrucksvolle Intellektualität kann ich oft nur schwer ertragen, doch wer „Lift Your Skinny Fists Like Antennas To Heaven“ hört, hört eben nichts von alldem, er hört: wirklich neue Musik, so banal das klingt.

 

Weitere, andere Gedanken: Was soll das alles sein? Ein Kraftakt? Eine Übung in unerträglicher Leichtigkeit des Seins, ein Mike Oldfield-Gedächtnismarathon? Furchtbar chaotische Skizzen im Booklet zu der Titelabfolge, das hatten wir doch alles schon hundert Mal, und bei Neil Young konnte man’s wenigstens noch einigermaßen lesen, doch die Musik! Schon hammermässig, diese daherbretternden mongolischen Herden, die das Abendland vollends überfallen. Kann ich aber auch nicht jeden Tag auflegen, denn das passt nicht in meine Leitkultur, und Bruckmaiers These von der Rettung der Rockmusik durch „Godspeed You Black Emperor“ ist ja etwas seltsam bei einer eigentlich für Rock sehr untypischen Platte. Meiner Meinung nach muss Rock auch gar nicht gerettet werden, es gibt genügend gute neue und alte interessante Acts und Platten, so auch diese. Eine sehr gute aber, ohne Frage. Und es stimmt auf jeden Fall die Behauptung, dass hier Neuland erschlossen wurde. Fragt sich nur, wer betritt dieses danach?

 

Womit wir beim dritten und letzten Abschnitt wären, dem Bonus-Heimspiel für den Americana-Fan. Ob mit oder ohne Haaranalyse, Johnny Daud darf nie Bundestrainer werden! Wenn das stimmt, was der da auf seinen Platten singt, dann muss unser Land von solch einem Schaden immensen Ausmaßes bewahrt werden, das kann ich Euch gar nicht sagen, wie immens das ist, so immens ist das. Ach Dowd steht ja da, ich lese momentan nur noch Daum, Daud, Daum. Tschuldigung für das Versehen, kommt nicht wieder vor. Also Dowd, Johnny: „Pictures Of Life’s Other Side“ war in meinen Ohren eine der besten Hank Williams-Adaptionen, ohne im Entferntesten nach diesem zu klingen, und mit einem wie Tom Waits konnte er locker mithalten. Jetzt die neue, „Temporary Shelter“. Der Schutz ist nur vorübergehend, das kennen wir. Die Orgel tönt wie in der Kirche des einsamen, irren Nachbarn am Ende des langen Feldes bis hin zum Horizont, und dort taucht auch die Silhouette von Captain Beefheart kurz auf, im Sonnenuntergang. Ein schönes Gebräu, das alles, und um einiges schwermütiger noch als der Vorgänger, aber essentieller Stoff.

Schön, einfach schön ist die Musik von Lou Ford auf „Alan Freed’s Radio“, das Gleiche gilt für Lilium mit „Transmission Of All The Goodbyes“ und Nadine und deren neue, „Lit Up From The Inside“.

 

Erstgenannte Band überzeugt durch sehr ungekünstelte, sehr soulvolle Musik, mit wirklich guten Songs, die sich eindeutig aus dem Durchschnitt vieler vergleichbarer Bands hervorheben, Lieder wie „(Move Up To) The Mountains“, „No Mystery“ oder „A Mile Away“ sowie eigentlich alle anderen auf der Platte: ein wunderbares Werk zum Relaxen, voller positiver Vibes und einem Countryrock, der mich nicht nur einmal an Wilco erinnert. Und Nadines durchaus sonniges Gemüt ist auf CD genauso gut wie live, für alle Neil Young-Fans ein Muss! „Lit Up From The Inside“ kommt mit einem makellosen Sound, rauen Gitarren und einem tollen Gesang von Adam Reichmann, der auch noch pötzlich wie die Reinkarnation von John Lennon aussieht. Na, wenn das nichts wird!

Die Details zur Platte von 16 Horsepowers Bassist findet ihr ja im Katalog und im Labelteil, hier also nur noch mein kleiner Tip dazu. Wer über den instrumentalen Ausbrüchen und Auswüchsen von „Godspeed You Black Emperor“ den Verstand verlieren sollte, der greife hier zum wohl dosierten Gegenmittel, vom Hausarzt auch für die kalten Wintertage wärmstens empfohlen. Man kommt dann schon wieder etwas runter, kein Problem.

 

Rolf Bergdolt

pigs on the wing

Exif JPEG PIC_0284PIC_0289 Exif JPEG

 

 

battersea power station,  london

 

pictures taken on location, september 2006

 

animals, pink floyd 1977

 

Das Cover des Albums zeigt ein Foto des Kohlekraftwerks Battersea Power Station mit einem fliegenden Schwein zwischen den Schornsteinen. Um dieses Bild zu erhalten, ließ die Band ein 9 x 4,5 Meter großes mit Helium befülltes Stoffschwein über dem Kraftwerk aufsteigen. Das Schwein wurde von dünnen Kabeln gehalten, die auf dem späteren Foto nicht mehr zu sehen sein sollten. Für den Fall, dass sich das Schwein losriss, wurde ein Scharfschütze engagiert um das Schwein notfalls abschießen zu können. Die Band forderte ausdrücklich dieses aufwändige Verfahren, da sie keine billigere, aber qualitativ minderwertige Fotomontage für das Cover zulassen wollte. Am ersten Tag des Fotoshootings schwebte das Schwein perfekt zwischen den Schornsteinen, aber der Himmel war blau und ohne Wolken. Da das Albumcover düster wirken sollte, wurde am nächsten Tag ein weiteres Shooting angesetzt in der Hoffnung, dass dunkle Wolken aufziehen. Da der Scharfschütze zu teuer war, wurde am zweiten Tag auf ihn verzichtet. Ironischerweise riss sich das Schwein am zweiten Tag los und stieg bis in eine Höhe von 18.000 Fuß (ca. 5900 Meter) auf. Aufgrund der Größe des Schweins und des unkontrollierten Fluges musste der Flugverkehr für London Heathrow umgeleitet werden, um keinen Unfall zu provozieren. Das Schwein stürzte später auf einer Schafweide ab und wurde für ein drittes Shooting repariert. Das Cover wurde letztlich doch als Fotomontage hergestellt, die die Bilder des ersten Tages mit den Wolken der weiteren Shootings kombiniert.

what a wonderful world

 

Exif JPEG Exif JPEG

 

another self portrait by bob dylan out on august 27th

http://vimeo.com/72494889

self portrait von 1970, ein album, zu dem mir immer einfiel: woher kommt diese gelassenheit? so relaxt, so easy, so leicht.

ich hab die platte im jahr 2000 folgendermaßen rezensiert

Bob Dylan:

Self Portrait

(Columbia 1970)

     Im Sommer 1970 erschienenes Doppelalbum, welches vorwiegend Cover-Versionen einiger Country- und Rockstandards enthielt – “Blue Moon”, “The Boxer”, „Early Mornin’ Rain“ – sowie einige neue und einige alte Dylan-Songs, welche von dem Isle Of Wight-Konzert 1969 mit The Band stammten. Insgesamt sicherlich eine der unwichtigsten und schwächsten Dylan-Platten, für die er zu damaliger Zeit herbe Kritik einstecken musste

(„Was soll dieser Scheiß?“ war nur eine der Überschriften im Rolling Stone), doch ähnlich wie „Nashville Skyline“ enthält dieses Album soviel gute Musik, dass es in keiner Sammlung fehlen darf. Dylan singt zweifelsohne bei einigen Liedern so was von unambitioniert und scheinbar gleichgültig, dass man seine Stimme im Vergleich zu allen seinen großen Platten und seinen tollen Konzerten kaum wiedererkennt, doch kaum ein Song ist vom Gesamtkonzept wegzudenken.

Im Großen und Ganzen wollte Dylan mit „Self Portrait“ wahrscheinlich einfach nur eine Art persönliches amerikanisches Countrysong-Album machen, welches eine Mischung aus krudem und erstklassigem Material war. Dazu zählt schon der Eröffner „All The Tired Horses“, welcher nur die beiden, auch noch von zwei Frauenstimmen gesungenen Zeilen „All the tired horses in the sun/How am I supposed to get any ridin’ done?“ enthält. Aus „ridin’“ könnte man nicht nur phonetisch auch „writin’“ machen, was sicherlich auch zu Dylans damaliger Schreibschwäche passt. Trotzdem, „Days Of 49“, „Little Sadie“, “Copper Kettle (The Pale Moonlight)“, “Gotta Travel On” sowie die beiden Versionen von “Alberta” sind beste Dylansongs mit engagiertem Gesang. „The Boxer“ von Simon & Garfunkel, von Dylan in einer merkwürdigen Version mit zwei übereinandergelegten Stimmen (die eine die seiner Country-Phase, die andere eindeutig die des ganz jungen, nasal klingenden Folkies) aufgenommen, kann man entweder lächerlich oder obskur finden – auf jeden Fall ist es einmalig. Das Ganze abrunden sollten wohl die Live-Takes des Konzertes mit The Band, wobei die verwendete Fassung von „Like A Rolling Stone“ von 1969 so daneben ist, wie es kaum noch „besser“ geht: Dylan vergisst mehrmals den Text, der im Rhythmus völlig veränderte Song wird runtergeleiert wie ein Kirmesschlager und das Zusammenspiel von Sänger und Gruppe passt überhaupt nicht – jeder andere hätte diese Aufnahme weggeschmissen, aber vielleicht wollte Dylan damit nur eines ausdrücken: wenn von mir sowieso jede Aufnahme (wie es ja seit den legendären „Basement Tapes“ mit beinahe jedem Dylan-Konzert geschah) als Bootleg in Umlauf gebracht wird, dann veröffentliche ich eben auch, was ich will – eine Maxime, die Dylan in der zweiten bzw. mittlerweilen dritten/vierten? Phase seiner Karriere noch öfters beherzigen sollte. „Self Portrait“ ist einfach als das zu nehmen, was es ist: als der Spaß des selbstgemalten Clowns auf dem Cover.

 

Pictures taken on location in London, Stoke Newington, September 2007

 

 

Exif JPEG Exif JPEG

the beat goes on

DSCI0258

 

William S. Burroughs am 31. Mai 1997 in seinem Tagebuch:

„Newt Gingrich, dieser schmierige Salamander. Der Dumpfmann werde bis zum Jahr 2001 ein drogenfreies Amerika schaffen. Was für eine öde Aussicht! Gilt natürlich nicht für Alkohol und Zigaretten. Da wird mit steigendem Konsum gerechnet. Wie erreicht man einen drogenfreien Zustand? Ganz einfach. Die Drogenrezeptoren im Gehirn kann man chirurgisch entfernen. Wer den Eingriff verweigert geht aller Rechte verlustig. Bekommt keine Wohnung vermietet, wird in Restaurants und Bars nicht mehr bedient. Kein Reisepaß, keine Leistungen von der Sozialversicherung, kein Krankheitsschutz, kein Recht auf Erwerb und Besitz einer Schußwaffe.

Wie ich sie alle hasse, die so versessen sind auf Konformität. Was soll denn dabei herauskommen? Man stelle sich die banale Öde eines drogenfreien Amerikas vor. Keine Kokser mehr, nur noch brave, saubere wohlanständige Amerikaner von Ozean zu glitzerndem Ozean. Jeder Widerspruch ausgetrieben und ausgemerzt wie ein Furunkel. Keine Slums. Keine verstohlenen Aktivitäten einer Unterwelt. Kein gar nichts. Jeder Blick auf die Straße eine knallharte Abschreckung. Niemand riskiert noch, einen Brief zu schreiben.

Totale Konformität. Was soll daran gut sein? Was wird aus dem unverwechselbaren Eigenen? Aus der Persönlichkeit? Aus dir und mir?“

 

(SZ Magazin, 10.10. 1997)

 

DSCI0267